Verfasst von Marlene Neumann
Aktuelle Demokratiedefizite und Lösungsvorschläge
Obwohl die Heilbronner:innen zu über 50 Prozent eine eigene oder familiäre Migrationsgeschichte haben, ist diese Gruppe kaum im Gemeinderat vertreten. Die Kommunalwahl nächstes Jahr wird entscheiden, ob dieses Demokratiedefizit weiterhin bestehen bleibt. Ein in Heilbronn gegründeter Verein möchte hier ansetzen und durch eine digitale Demokratie Plattform Engagement und Mitbestimmung vereinfachen.
Heilbronn ist eine Einwanderungsstadt, schon seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten. Die Stadt am Neckar stand wirtschaftlich fast immer gut da. Große und kleine Unternehmen brauchen viel Personal, Menschen aus der ganzen Welt haben Heilbronn zu ihrer neuen Heimat gemacht. Zum Jahresende 2020 hatten 27,2 Prozent der Heilbronner:innen eine andere Staatsangehörigkeit als die deutsche und weitere 27,1 Prozent haben die deutsche Staatsangehörigkeit mit Migrationsgeschichte.
Im Gemeinderat haben hingegen nur zwei Mitglieder eine eigene oder familiäre Migrationsgeschichte. Die Geschäftsstelle hat bestätigt, dass ein Mitglied in der Schweiz geboren wurde. Von einem weiteren Mitglied ist bekannt, dass ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Die Mehrheit der Heilbronner:innen wird also in dieser Hinsicht kaum im Gemeinderat repräsentiert. Es ist überflüssig dies zu sagen, aber der Vollständigkeit halber sei es nochmal ganz deutlich erwähnt- ohne Heilbronner:innen mit Migrationsgeschichte, wäre die Stadt nicht die, die sie heute ist – wirtschaftlich, sozial, kulturell.
Wie kommt es dann zu diesem Demokratiedefizit? Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Zum einen gibt es einen hohen Anteil nicht-wahlberechtigter Bürger:innen, die eine andere Staatsangehörigkeit als die Deutsche besitzen. Bei den Kommunalwahlen sind EU-Staatsangehörige wahlberechtigt, aber keine Staatsangehörigen von sogenannten Drittstaaten. Zum Stichtag 31. Dezember 2018 lebten in Heilbronn 17.800 Personen über 16, die bei Kommunalwahlen nicht wählen konnten. Diese Zahl hat sich binnen vier Jahren weiter um 3.300 Menschen auf 21.100 erhöht, was 19,13 Prozent der erwachsenen Bevölkerung entspricht (16 und älter). Für eine Parlamentswahl, also eine Landtags- oder Bundestagswahl, lebten am 31. Dezember 2022 74.700 Wahlberechtigte in Heilbronn, im Verhältnis zu 33.000 nicht wahlberechtigten Erwachsenen. Dabei handelt es sich um über 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (18 und älter). Dazu kommen 5.900 Kinder und Jugendliche, die Stand heute auch nicht wählen können, wenn sie 18 werden.
Quelle: Stadt Heilbronn
Um wählen zu können, müssen sich die Heilbronner:innen einbürgern lassen. Kaum ein Verwaltungsakt in Deutschland hat so hohe Hürden; eine Unmenge an Nachweisen wird verlangt und die Voraussetzungen sind streng formuliert. Der letzte Schritt – wenn man im Prozess überhaupt so weit kommt – ist in vielen Fällen die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit, für immer. Was das bedeutet, kann man sich leicht vorstellen mit einem Beispiel, was sich vielleicht viele anhand einer bekannten deutschen Dokusoap besser vorstellen können. Wie viele der deutschen Migrant:innen, die hier im Titel der Serie Auswanderer:innen genannt werden, die es nach Kanada, die USA, Thailand oder sonst wohin verschlägt, würden im Zweifelsfall ihren deutschen Pass und alle damit verbundenen Privilegien abgegeben? Wer würde die Möglichkeit aufgeben jemals nach Deutschland zurückzukehren, auch nicht im hohen Alter?
Wenn man darüber hinaus der Frage nachgeht, warum Staatsangehörigen von EU-Mitgliedsstaaten bei Kommunalwahlen auch ohne deutsche Staatsangehörigkeit wählen dürfen und in ihrem Fall die doppelte Staatsangehörigkeit erlaub ist, kann man von Diskriminierung sprechen. Hier werden Bürger:innen mit außereuropäischen Staatsangehörigkeiten offensichtlich weniger Mitspracherechte eingeräumt. Gülistan Ates lebt in Heilbronn und ist selbst betroffen, weil sie nicht wählen darf. Sie beschreibt die Situation folgendermaßen: “Politisch aktiv zu sein, aber dennoch bei den Kommunalwahlen nicht wählen zu dürfen, aufgrund vom Fehlen eines europäischen Passes, zeigt einmal mehr, dass Bevölkerungsgruppen marginalisiert werden und die Mentalität des Eurozentrismus tief in Deutschland verankert ist. Seit 26 Jahren in Deutschland zu leben, aber dennoch nicht wählen zu dürfen, zeigt, dass man uns als Menschen zweiter Klasse betrachtet.”
Somit bleiben 33.000 bzw. 21.100 Heilbronner:innen, die teilweise hier geboren sind oder schon seit Jahrzehnten hier leben, die Geschäfte haben, Steuern zahlen und vielfältig engagiert sind ohne Stimme im demokratischen System und es wird ihnen damit das Recht vorenthalten, demokratische Prozesse mitzugestalten.
Auf der Suche nach den Gründen für diese besondere Lage in Heilbronn lohnt sich ein Blick auf die Kommunalwahlen. Wenn Parteien an Kommunalwahlen teilnehmen wollen, wählen sie parteiintern eine Liste. Je höher Kandidat:innen auf der Liste stehen, desto größer ist die Chance, auch in den Gemeinderat gewählt zu werden. Immerhin gut 27 Prozent der Heilbronner:innen mit Migrationsgeschichte haben das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Der Pool an kompetenten, engagierten Bürger:innen mit Migrationsgeschichte, die Listenplätze der Parteien belegen können, ist also kein geringer. Es ist natürlich auch wichtig, dass die Personen direkt gewählt werden, denn es ist möglich, ganze Listen, aber auch einzelne Personen zu wählen. Hier ist das Wahlverhalten nicht ungleich in Bezug auf Frauen in der Politik, weil beide Gruppen weniger häufig gewählt werden, auch wenn sie sich zur Wahl stellen. In dem Fall der Bürger:innen mit Migrationsgeschichte liegt das natürlich auch an den 27 Prozent, die nicht wählen dürfen.
Mit der Stabsstelle für Partizipation und Integration der Stadt Heilbronn hat die Kommune die beiden wichtigen Themen schon im Namen vereint und verschiedene Maßnahmen umgesetzt, so wie die Einrichtung eines Integrationsbeirats und die Schulung von kulturellen Mittler:innen sowie Welcome Guides. Doch was die so wichtige politische Partizipation angeht, zeigen die Zahlen, dass diese Angebote bisher nur an der Oberfläche kratzen, so lange die Mitgliedschaft im Beirat oder Schulungen nicht dazu führen, dass auch mehr Heilbronner:innen mit Migrationsgeschichte in den entscheidenden Gremien sitzen. Es darf auch nicht dazu führen, dass parallele Gremien als Feigenblätter entstehen. Auch der Jugendgemeinderat ist schon wesentlich repräsentativer aufgestellt – unter den jungen Heilbronner:innen ist der Anteil derer mit Migrationsgeschichte nochmal höher – doch auch hier hat noch kein Übergang in den Gemeinderat stattgefunden.
Was kann man tun, um dieses Demokratiedefizit zu verringern? Nächstes Jahr ist wieder die Kommunalwahl. Die Parteien haben jetzt die Chance zu agieren, Mitglieder mit Migrationsgeschichte anzusprechen, vorzubereiten und zu stärken, neue Mitglieder zu finden und Kontakte zu migrantischen Vereinen aufzubauen. Die Stadtverwaltung kann mit der Stabsstelle hier begleiten und das Thema in die Communities streuen und Brücken zu den Parteien bauen. Doch all das wird nicht reichen, die Kluft zwischen der Mehrheit der Heilbronner:innen und den bestehenden politischen Strukturen zu schließen, deswegen müssen auch neue Ideen gefunden werden.
Mitglieder des in Heilbronn gegründeten Vereins Transnational Community Federation e.V. (TCF) entwickeln gerade einen neuen Weg, um Engagement zu ermöglichen und somit mehr Menschen zu erreichen. Die Idee ist, neue Technologien zu nutzen, um politische Partizipation sowie den Zugang und den Austausch von Informationen zu vereinfachen. TCF entwickelt mit dem Projekt Fordem (for democracy) eine digitale Demokratieplattform, um sich per App über lokale Entwicklungen und Veranstaltungen zu informieren, an Umfragen teilzunehmen und diese zu initiieren, sich lösungsorientiert mit anderen zu vernetzen, sich zu engagieren, organisieren und mobilisieren. Die Plattform wird in mehreren Sprachen angeboten, wodurch sich neue Möglichkeiten für Informationsaustausch und Netzwerke ergeben in einer komplett transparenten Umgebung. Dabei legt das Team rund um Fordem einen Schwerpunkt auf Datensicherheit und Datenschutz. Mit Fordem haben Nutzer:innen eine individuelle digitale Signatur und können mit einem Pseudonym teilnehmen. So kann gesichert werden, dass Umfragen das Meinungsbild der Bürger:innen gut darstellen. Fordem ist eine Open-Source-Software für die Zivilgesellschaft, die frei von privatwirtschaftlichen Interessen ist.
Fordem hat das Potential, die Kommunalwahl kommendes Jahr inklusiver zu gestalten, mehr Menschen mit Migrationsgeschichte zu erreichen und für einen Listenplatz zu gewinnen. Die Plattform bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Entscheidungen in den Gremien breiter zu streuen und Meinungen und Ideen einer Vielzahl der Bürger:innen mit einzubeziehen und somit die Demokratie in Heilbronn zu stärken.
Kontakt:
Marlene Neumann
mneumann@transcf.org
Quellen und weitere Informationen:
- Webseite Fordem
- Spendenkampagne bei betterplace.org
- Webseite TCF
- Statistik Einwohner:innen Heilbronn
Auskunft der Stadt Heilbronn zu den Wahlberechtigten:
Angaben zu Wahlberechtigungen im Stadtkreis Heilbronn | ||
Angaben für Parlamentswahlen (gerundet): | ||
(Wahlberechtigt sind Personen mit Deutscher Staatsangehörigkeit ab 18 Jahren.) | ||
31.12.2018 | 31.12.2022 | |
Wahlberechtigte 18 Jahre und älter | 77,000 | 74,700 |
zukünftig Wahlberechtigte(Deutsche Staatsangehörigkeit, unter 18 Jahre) | 17,900 | 17,300 |
Nicht Wahlberechtigte, 18 Jahre und älter | 29,700 | 33,000 |
zukünftig nicht Wahlberechtigte(Nichtdeutsche Staatsangehörigkeit, unter 18 Jahre) | 4,000 | 5,900 |
Angaben für Kommunalwahlen (gerundet): | ||
(Wahlberechtigt sind neben Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit auch Unionsbürger der EU. | ||
Das Wahlalter beginnt mit Vollendung des 16. Lebensjahres.) | ||
31.12.2018 | 31.12.2022 | |
Wahlberechtigte 16 Jahre und älter | 91,300 | 89,200 |
zukünftig Wahlberechtigte(EU- Staatsangehörigkeit, unter 16 Jahre) | 17,600 | 17,300 |
Nicht Wahlberechtigte, 16 Jahre und älter | 17,800 | 21,100 |
zukünftig nicht Wahlberechtigte(keine EU-Staatsangehörigkeit, unter 16 Jahre) | 1,900 | 3,300 |